prof. Siegfried Willutzki
Gerichtsbarkeit und europäische Verfassung

Auch wenn in dem Thema meines Vortrags die Gerichtsbarkeit an erster Stelle steht, ist es doch eindeutig, dass das Schwergewicht bei der europäischen Verfassung liegt. Ich werde deshalb die Bedeutung der europäischen Verfassung an die Spitze meines Vortrages stellen, danach auf den Einfluss der europäischen Verfassung auf die Gerichtsbarkeit eingehen, um Ihnen dann in der Konsequenz dieses Einflusses die Gründung einer europäischen Rechts Akademie in Warschau vorzuschlagen.

 

Voranstellen möchte ich das Zitat eines bekannten deutschen Staats- und Europarechtlers: "Ein Europa, dass magnetisch immer mehr Aufgaben und immer mehr Mitglieder an sich zieht, lechzt geradezu nach verbürgter Zuverlässigkeit. Es ist nicht bloß ein Gegenstand von Pathos und Vision, sondern Produzent von öffentlichen Gütern, an denen harte Leistungserwartungen zu richten sind." (Werner Weidenfeld)

Vor diesem Hintergrund hat die Verabschiedung der europäischen Verfassung als "Vertrag über eine Verfassung für Europa" durch den Europäischen Rat im Juni 2004 in Brüssel und seine darauf folgende Unterzeichnung Ende Oktober 2004 in Rom ein neues Zeitalter für die Europäische Union eingeleitet. Der Verfassungsvertrag, der sich im wesentlichen auf die Vorarbeiten und den Entwurf eines von 2001 bis 2003 eingesetzten Europäischen Konvents gründet, ist die bisher weitreichendste und in sich geschlossene Reform der Europäischen Verträge, die bis 2007 von der neuen Verfassung abgelöst werden sollen, sobald diese in allen Mitgliedsstaaten förmlich ratifiziert worden ist

Als bisher anspruchsvollstes Reformprojekt der Europäischen Union kann die Verfassung für Europa zu Recht ein Vertrag von historischer Tragweite genannt werden. Dennoch ist dieses Projekt nicht etwas völlig Neues. Der Entwurf der europäischen Verfassung baut auf auf den Reformverträgen von Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001. Die mit ihnen gemachten politischen und institutionellen Erfahrungen führten schließlich im Dezember 2001 zu der Einsetzung des Europäischen Konvents. Der von ihm ausgearbeitete Verfassungsentwurf wurde von den Staats- und Regierungschefs sowie ihren Außenministern beraten. Die Beratung geriet aber wegen der Uneinigkeit über das künftige Abstimmungsverfahren im Ministerrat der Europäischen Union und über die Stimmverteilung der Mitgliedstaaten zeitweilig ins Stocken. Ich denke, die Diskussion über die Stimmverteilung ist gerade in Polen hinreichend bekannt. Doch gelang es in der Regierungskonferenz vom 18. Juni 2004 in einem abschließenden Treffen der Regierungsvertreter der 25 Staaten, zu einer Einigung zu kommen. Die feierliche Unterzeichnung des Vertrages fand dann in einem Festakt auf dem Kapitol in Rom am 29.10.2004 statt. Nach der Unterzeichnung des Vertrags müssen nun alle Mitgliedstaaten die Verfassung entsprechend ihren jeweiligen nationalen Verfahren ratifizieren, die in den einzelnen Staaten unterschiedlich gestaltet sind. Während in Deutschland die Annahme durch das Parlament mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit genügt, ist in Polen eine Volksabstimmung dafür vorgesehen. Sofern alle Ratifikationurkunden in Rom rechtzeitig hinterlegt worden sind, soll der Verfassungsvertrag dann am 1.11.2006 in Kraft treten.

 

Der Verfassungsvertrag hingegen von einer Doppelnatur der Europäischen Union aus: sie soll einmal Bürgerunion sein, zugleich aber auch Staatenunion. Einerseits stützt sich die Europäische Union unmittelbar auf die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, denen gegenüber sie öffentliche Gewalt ausübt, zum Beispiel durch die unmittelbar geltenden europäischen Gesetze. Die Bürgerinnen und Bürger ihrerseits haben dementsprechend gegenüber der Union unmittelbar demokratische Kontrollrechte, besonders durch die Wahlen zum Europäischen Parlament. Das ist die eine Seite der Doppelnatur. Andererseits stützt sich die Union aber nach wie vor auf die Mitgliedstaaten, deren demokratisch legitimierte Regierungen über den Rat maßgebliche Entscheidungsbefugnisse behalten. Charakteristisch für die Staatenunion ist auch, dass die Mitgliedstaaten "Herren der Verträge" bleiben, da Vertragsänderungen auch künftig nur nach Ratifikation durch alle Vertragsparteien in Kraft treten können. Jeder Mitgliedstaat kann darüber hinaus im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Europäischen Union auszutreten; ein solches ausdrückliches Austrittsrecht war in den bisherigen Gemeinschaftsverträgen nicht vorgesehen.

Der Charakter der Europäischen Union als Rechts- und Wertegemeinschaft wird darüber hinaus durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte als subjektiver Grundrechtsgewährleistung und objektiver Wertordnung der Union deutlich unterstrichen. Außerdem ist es gelungen, neben dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas auch die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie die Leitprinzipien Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte in der Präambel der Verfassung zu verankern.

 

Um die Systematik des Vertragswerks richtig verstehen zu können, muss man wissen, dass der Vertragsentwurf aus vier gleichartigen Teilen besteht, die keiner Rangordnung folgen. Die Aufteilung ergibt sich aus dem Verfassungscharakter des Vertrags:

 Der erste Teil enthält die grundsätzlichen Bestimmungen der Europäischen Union, wie ihre Definition, die Darstellung der Werte und Ziele, die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft, die Zuständigkeitsordnung, die Institutionenordnung und die Rechtsinstrumente. Dieser grundsätzliche Teil ist erstaunlich kurz ausgefallen. In nur 60 Artikeln gibt er einen Überblick über die wichtigsten Aspekte der europäischen Rechtsordnung und erfüllt so die Forderung nach einem kurzen und verständlich formulierten Verfassungstext.

Der zweite Teil übernimmt die bereits im Jahre 2000 in Nizza in einer feierlichen Erklärung verkündete Charta der Grundrechte weitgehend unverändert

Der dritte Teil enthält die meisten Regelungen und Rechtsgrundlagen des bisherigen Vertrags zur Gründung der Europäischengemeinschaft (EGV), die jedoch zum Teil überarbeitet sind und zugleich systematisch in neuer Folge geordnet werden. In diesem dritten Teil sind auch die Bestimmungen zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in weitgehend neu gefasster Form eingefügt

Der vierte und letzte Teil enthält die Übergangs- und Schlussbestimmungen. Hier finden sich auch die zum Bestandteil der Verfassung gewordenen und dem Vertrag beigefügten Protokolle und Anhänge . Die Protokolle und Erklärungen zur Verfassung beziehungsweise zur Schlussakte der Regierungskonferenz sind, soweit sie nicht als Protokolle selbst unmittelbar rechtlich regelnden Charakter haben, wichtige Elemente für die Vertragsauslegung und für die Anwendung des Vertrages in der jetzt vorliegenden Fassung.

 

 

Das mag als Überblick über die europäische Verfassung genügen. Doch wie steht es nun mit der Gerichtsbarkeit? Für die europäische Verfassung gelten selbstverständlich die klassischen Verfassungsgrundsätze, und das bedeutet, dass auch für die europäische Verfassung das Gewaltenteilungsprinzip gilt. Deshalb findet sich in den ersten Teil der Verfassung, der die grundsätzlichen Bestimmungen enthält, unter dem Titel "Die Organe und Einrichtungen der Union" in dem Artikel 29 die Regelung über den Gerichtshof der Europäischen Union. Diese Institution sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verfassung. Die Gerichtsbarkeit auf europäischer Ebene ist dreistufig gestaltet: höchstes Gericht ist der europäische Gerichtshof selbst, darunter steht das so genannte Gericht, und die unterste Ebene bilden die so genannten Fachgerichte. Den einzelnen Mitgliedstaaten wird auferlegt, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den von der Union erfassten Bereichen gewährleistet ist. Der Artikel 29 regelt auch die Zusammensetzung des Gerichtshofs und des Gerichts. Der Gerichtshof selbst besteht aus einem Richter für jeden Mitgliedstaat, er wird von Generalanwälten unterstützt. Das dem Gerichtshof untergeordnete Gericht kann eine größere Zahl von Richtern aufweisen, da Artikel 29 festlegt, dass das Gericht aus mindestens einem Richter für jeden Mitgliedstaat bestehen soll. Artikel 354 der Verfassung sieht vor, dass der Gerichtshof von acht Generalsanwälten unterstützt wird, deren Zahl auf Antrag des Gerichtshofs durch einstimmigen Beschluss des Rates erhöht werden kann. Der Generalsanwalt hat öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Die Verfassung selbst legt in den Artikeln 355 und 356 die Anforderungen an die Qualifikation der Richter des Gerichtshofs und des Gerichtes fest. Zu Richtern und Generalsanwälten des Gerichtshofs sind Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind. Bei der Auswahl der Richter für das nachrangige Gericht sind die Qualifikationsanforderungen schon etwas niedriger; neben der auch hier selbstverständlichen Gewähr für Unabhängigkeit genügt es, dass sie über die Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten verfügen. Zur Beurteilung der Eignung der Bewerber für diese hohen Richterämter sieht die Verfassung die Einsetzung eines aus sieben Persönlichkeiten bestehenden Ausschusses vor, dessen Zusammensetzung in dem Artikel 357 geregelt ist. Die Ernennung der Mitglieder des Gerichtshofs und des Gerichtes erfolgt durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen nach vorheriger Anhörung des eben erwähnten Ausschlusses. Sowohl für den Gerichtshof selbst wie auch für das Gericht ist alle drei Jahre eine teilweise Neubesetzung der Richterstellen vorgesehen. Der Präsident sowohl des Gerichtshofs als auch des Gerichts wird nicht von den Regierungen bestellt, sondern von den Richtern des jeweiligen Gerichts auf die Dauer von drei Jahren aus ihrer Mitte gewählt, wobei eine Wiederwahl zulässig ist. Für den Justizjuristen ist es ein wenig überraschend, dass die Verfahrensordnung nicht in einem Gesetzgebungsverfahren unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments zu Stande kommt, sondern dass der Gerichtshof und das Gericht die jeweilige Verfahrensordnung selbst erlassen allerdings ist vorgesehen, dass diese Verfahrensordnung dann der Genehmigung durch den Rat bedarf.

Während der Europäische Gerichtshof und das Gericht in der Verfassung selber ausdrücklich geregelt sind, sieht Artikel 359 vor, das durch Europäisches Gesetz dem Gericht beigeordnete Fachgerichte eingerichtet werden, die über bestimmte Kategorien von Klagen auf besonderen Sachgebieten zu entscheiden haben. Die Initiative zum Erlass eines solchen Gesetzes geht entweder von der Kommission nach Anhörung des Gerichtshofs oder vom Gerichtshof selbst nach Anhörung der Kommission aus. Wenn solche Fachgerichte eingerichtet sind, entscheiden sie in dem entsprechenden Sachgebiet erstinstanzlich, für die Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen die Fachgerichtsentscheidungen ist das Gericht zuständig.

Die Verfassung überlässt es dem Europäischen Gesetz, mit denen ein Fachgericht eingerichtet wird, wie die Zusammensetzung dieses Gerichts und die ihm zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse geregelt wird. Die Auswahlkriterien für die Richter sind jedoch wiederum in der Verfassung selbst festgelegt: neben deren Gewähr für Unabhängigkeit ist allein die Befähigung zur Ausübung richterlicher Tätigkeit erforderlich. Die Ernennung der Mitglieder der Fachgerichte erfolgt durch den Rat, der einstimmig beschließt. Auch den Fachgerichten ist es gestattet, ihrer Verfahrensordnung selbst zu regeln, allerdings im Einvernehmen mit dem Gerichtshof; außerdem bedarf diese Verfahrensordnung der Genehmigung durch den Rat.

Die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts ergibt sich aus den Artikeln 358 bis 374. Von herausragender Bedeutung ist Artikel 365, der festlegt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtmäßigkeit der europäischen Gesetze und Rahmengesetze sowie die Handlungen des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank zu überwachen hat, aber auch die Handlungen des Europäischen Parlamentes und des Europäischen Rates mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten. Die gleiche Überwachungsaufgabe fällt ihm auch zu bei Handlungen von Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten. Zur Erfüllung dieser Zwecke ist der Gerichtshof auch für Klagen zuständig, die ein Mitgliedstaat, das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verfassung oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauch erhebt. Von besonderer Bedeutung ist aber, dass die Verfassung erstmalig festgelegt, dass auch jede natürliche oder juristische Person unter den gleichen Bedingungen gegenüber den an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar angehen, Klage erheben können.

 

Diese Darstellung macht deutlich, dass die Verfassung sich darauf beschränkt, allein die Gerichtsbarkeit auf europäischer Ebene zu regeln, während auf Eingriffe gegen die Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten verzichtet wird, jedenfalls soweit es allein um die Gestaltung und den Aufbau der nationalen Gerichtsbarkeit geht.

Das bedeutet indessen nicht, dass die europäische Verfassung ohne Einfluss auf die nationale Rechtsprechung bleibt. Denn die Verfassung regelt justizielle Rechte für alle Unionsbürger, die in dem zweiten Teil der Verfassung, der Charta der Grundrechte der Union, in den Artikeln 107 bis 110 festgelegt sind. Die bedeutsamste Regelung enthält der Artikel 107. Danach hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, unter den in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Es besteht ein Anspruch darauf, dass die Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jeder Person wird zugestanden, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen. An den nicht vorhandenen finanziellen Mitteln soll die gerichtliche Inanspruchnahme nicht scheitern. Wer nicht über ausreichende Mittel verfügt, dem ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.

Neben dieser grundsätzlichen Absicherung gerichtlichen Rechtsschutzes ist aber für die Rechtsprechung auch zunehmend die europäische Rechtsetzung von großer Bedeutung. Die bisher unübersichtlichen Instrumente der Union sind im Verfassungsvertrag vereinfacht und zu einer klaren Normenhierarchie zusammengefasst worden. Es wird künftig sechs Rechtsquellen geben: Europäische Gesetze, Europäischen Rahmengesetze, Europäische Verordnungen, Europäische Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen. Die Regelungen im einzelnen hierzu finden sich in den gemeinsamen Bestimmungen über die Ausübung der Zuständigkeiten der Union in den Artikeln 33 bis 37. Von besonderer Bedeutung ist hier der Artikel 33, der die einzelnen Rechtsetzungsakte definiert. Der höchste Unionsrechtsakte ist das Europäische Gesetz, das ein Gesetzgebungsakt mit allgemeiner Geltung ist. Es ist in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.

Dagegen ist das Europäische Rahmengesetz als Gesetzgebungsakt nur mit dem zu erreichenden Ziel für jeden Mitgliedstaat verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll. Die Europäische Verordnung ist ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung; sie dient der Durchführung der Gesetzgebungsakte und einzelner Verfassungsbestimmungen. In ihren Auswirkungen ist die Europäische Verordnung unterschiedlich; sie kann entweder wie das Europäische Gesetz in allen ihren Teilen verbindlich sein und unmittelbare Geltung in jedem Mildmitgliedstaat beanspruchen, sie kann aber auch wie das Europäische Rahmengesetz lediglich für das Ziel Verbindlichkeit haben, die Wahl der Form und Mittel jedoch den innerstaatlichen Stellen überlassen. Der Europäische Beschluss wiederum ist ein Rechtsakt mit Verbindlichkeit in allen Teilen, aber ohne Gesetzescharakter; wenn er sich an bestimmte Adressaten richtet, ist er nur für diese verbindlich. Als ein Beispiel für einen Europäischen Beschluss mag die vorhin schon erwähnte Regelung gelten, wonach als Teil der europäischen Gerichtsbarkeit Fachgerichte durch Europäischen Beschluss eingerichtet werden können. Dagegen sind die an letzter Stelle in den Europäischen Rechtsakten genannten Empfehlungen und Stellungnahmen, wie diese Begriffe schon sprachlich deutlich machen, in keinem Falle verbindlich.

Es liegt auf der Hand, dass die nationale Rechtsprechung am stärksten durch Europäische Gesetze beeinflusst wird wegen ihrer in allen Teilen vorgeschriebenen Verbindlichkeit und ihrer unmittelbaren Geltung in jedem Mitgliedstaat. Aber auch die Europäischen Rahmengesetze, bei denen der nationale Gesetzgeber die durch die europäischen Institutionen verbindlich vorgegebene Zielsetzung innerstaatlich gesetzlich umzusetzen hat, greifen natürlich in die nationale Rechtsprechung ein, wenn die innerstaatliche Umsetzung erfolgt ist.

 

Den stärksten Einfluss auf die nationale Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung werden nach meiner Überzeugung jedoch die Bestimmungen auszuüben, mit denen die Verfassung für die Europäische Union einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gewährleisten will, die in den Artikeln 257 ff. niedergelegt sind. Programmatisch heißt es hierzu in Artikel 257 Absatz vier: "die Union erleichtert den Zugang zum Recht, insbesondere durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen." Speziellere Bestimmungen sieht die Verfassung für die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen und in Strafsachen vor. Für Zivilsachen mit grenzüberschreitenden Bezügen hat die Union eine Zusammenarbeit zu entwickeln, die auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen beruht. Zu diesem Zweck wird der Erlass von Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten möglich gemacht. Um die justizielle Zusammenarbeit sicher zu stellen, werden die stärksten zur Verfügung stehenden Rechtsakte eingesetzt, nämlich Europäische Gesetze oder Rahmengesetz. Mit diesen Maßnahmen soll folgendes sichergestellt werden:

a) die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher und außergerichtliche Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten;

b) die grenzüberschreitende Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke;

c) die Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen und Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten;

d) die Zusammenarbeit bei der Erhebung von Beweismitteln;

e) einen effektiven Zugang zum Recht;

f) die Beseitigung von Hindernissen für die reibungslose Abwicklung von Zivilverfahren, erforderlichenfalls durch Förderung der Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden zivilrechtlichen Verfahrensvorschriften;

g) die Entwicklung von alternativen Methoden für die Beilegung von Streitigkeiten;

h) die Förderung der Weiterbildung von Richtern und Justizbediensteten.

 

Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitenden Bezügen werden durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz des Rates festgelegt. Hierfür ist die Anhörung des Europäischen Parlaments und ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich. Für das Familienrecht gilt auch noch insoweit eine Besonderheit, als der Rat auf Vorschlag der Kommission einen Europäischen Beschluss erlassen kann, durch den die Aspekte des Familienrechts mit grenzüberschreitenden Bezügen bestimmt werden, die Gegenstand von Rechtsakten sein können, die dann in dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Auch für diesen Beschluss ist die vorherige Anhörung des Europäischen Parlaments und Einstimmigkeit im Rat erforderlich.

 

Bei der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen geht die Verfassung offensichtlich davon aus, dass hier bereits ein höherer Standard erreicht ist. Nach Artikel 270 Absatz 1 beruht sie auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen. Anders als bei der Zusammenarbeit in Zivilsachen, wo Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erlassen werden können, wird bei der Zusammenarbeit in Strafsachen eindeutig davon ausgegangen, dass die Angleichung bestimmter Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten zwingend vorgenommen wird. Auch in diesem Bereich hat die Regelung der Zusammenarbeit durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz zu erfolgen.

Dabei geht es darum,

a) Regeln und Verfahren festzulegen, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird;

b) Kompetenzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern und beizulegen;

c) die Weiterbildung von Richtern und Staatsanwälten sowie Justizbediensteten zu fördern;

d) die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern.

Ferner ist vorgesehen, dass für bestimmte Kriminalitätsbereiche mit grenzüberschreitenden Dimensionen wie Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität durch Europäisches Rahmengesetz Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in diesen Bereichen besonders schwerer Kriminalität vorgeschrieben werden.

Durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz sollen auch Maßnahmen vorgesehen werden können, um das Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der Kriminalprävention zu fördern und zu unterstützen.

 

Es liegt auf der Hand, dass mit diesen zahlreichen Maßnahmen zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Justiz stark in die nationale Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung eingegriffen wird. Daraus ergibt sich die verpflichtende Notwendigkeit nicht nur für die Richter, sondern für alle mit Rechtssachen befassten Personen, ständig auf die Rechtsetzungsakte der europäischen Institutionen zu achten und sie in die nationale Rechtspraxis umzusetzen. Die Aufgabe für alle im weitesten Sinne in der Justiz Tätigen hat sich damit enorm vergrößert. Es genügt nicht mehr, das nationale Recht in der Alltagspraxis präsent zu haben, die ständig anwachsende Flut europäischer Rechtssetzungsakte verlangt Richtern, Anwälten, Notaren und Rechtsbeiständen zunehmend mehr ab.

Hinzukommt noch, dass in steigender Zahl bilaterale oder multilaterale internationale Abkommen oder Übereinkünfte, wenn sie denn in nationales Recht umgesetzt werden, Einfluss auf die nationale Rechtsordnung erhalten und beachtet werden müssen. Das lässt sich mit der herkömmlichen Arbeitsweise der in der Justiz Tätigen nicht mehr bewältigen.

Da haben auch die Schöpfer der Europäischen Verfassung erkannt und deshalb bei den Maßnahmen, die zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Justiz zu ergreifen sind, sowohl für Zivilsachen wie für Strafsachen ausdrücklich die Förderung der Weiterbildung von Richtern, Staatsanwälten und Justizbediensteten in der Verfassung selbst ausdrücklich vorgesehen. Das stellt in meinen Augen einen klaren Verfassungsauftrag an alle Mitgliedstaaten dar, der Fortbildung dieser Personengruppe besondere Aufmerksamkeit zu widmen und verlangt von den Justizministerien der einzelnen Mitgliedstaaten, die entsprechenden Fortbildungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. In der Bundesrepublik Deutschland haben sowohl der Bund als auch die einzelnen Bundesländer Justizakademien aufgebaut, die für die verschiedenen Berufsgruppen innerhalb der Justiz Fortbildungsangebote eröffnen. Ich halte es allerdings für ein ausgesprochenes Manko der Justizpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, dass die Fortbildung für Richter und Staatsanwälte nicht obligatorisch, sondern fakultativ ist. Es bleibt also jedem einzelnen Richter oder Staatsanwalt freigestellt, ob er sich fortbildet oder nicht. Ich halte das für einen ausgesprochenen Skandal. Allen anderen Berufsgruppen in Deutschland wird nämlich Fortbildung zwingend abverlangt und ihre Unterlassung als Kunstfehler gewertet, der zum zivilrechtlichen Schadensersatz oder gar zu strafrechtlicher Verantwortlichkeit führt. Ich hoffe sehr, dass man in Polen nicht den gleichen Fehler macht, sondern Fortbildung für Richter und Staatsanwälte zwingend vorschreibt.

 

Ich sähe es aber als kurzsichtig an, wenn man die in der Europäischen Verfassung vorgeschriebene notwendige Weiterbildung allein auf Richter, Staatsanwälte und Justizbedienstete beschränkte. Auch die Rechtsberatung, sei es durch Rechtsanwälte, Notare und Rechtsbeistände, sei es durch die Rechtsabteilungen von Behörden und Betrieben, ist unbedingt darauf angewiesen, permanent auf dem neuesten Stand der europäischen Rechtsregelungen zu sein, um durch eine qualifizierte Rechtsberatung präventiv zur Vermeidung von gerichtlich ausgetragenen Rechtsstreitigkeiten beitragen zu können. Auch die rechtsberatenden Berufe müssen deshalb nach meiner Überzeugung notwendigerweise in die Weiterbildung miteinbezogen werden. In einem solchen Schritt sehe ich außerdem auch einen der wichtigsten und wirkungsvollsten Beiträge zu einer effektiven Entlastung der Justiz. Ich denke, auch in Polen ist ebenso wie in Deutschland eine zunehmende Überlastung der Justiz zu beobachten, nach meiner Überzeugung eine zwangsläufige Folge des westlichen Wirtschaftssystems, der sich auch in Polen durchgesetzt hat.

 

Die Konsequenz aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Weiterbildung für alle im Rechtssystem tätigen Berufsgruppen führt deshalb zwangsläufig zu der Forderung nach Errichtung einer Europäischen Rechtsakademie, die ihren Standort sinnvoller Weise in Warschau haben sollte. Im westlichen Europa haben wir bereits eine solche Europäische Rechtsakademie in der deutschen Stadt Trier. Nach meiner Überzeugung brauchen wir jedoch die gleiche Institution auch für den osteuropäischen Raum, und da Polen das größte der neuen Beitrittsländer in der Europäischen Union ist, erscheint es mir absolut sinnvoll, die zweite europäische Rechtsakademie in Warschau anzusiedeln.

Natürlich bin ich mir bewusst, dass der polnische Staat bereits an der Europäischen Rechtsakademie in Trier beteiligt ist, dennoch meine ich, dass eine zweite europäische Rechtsakademie im osteuropäischen Raum dringend gebraucht wird. Die neuen Beitrittsländer in Osteuropa haben naturgemäß einen der erheblichen Nachholbedarf bei der Rezeption des europäischen Rechts. Die europäische Rechtsakademie in Trier ist aber nach meinem Eindruck mit ihrem Programm für den westeuropäischen Bereich von ihrer Kapazität her voll ausgelastet und deshalb außer Stande, dieser Nachholbedarf auch noch gerecht zu werden. Hinzu kommt, dass auch der Kostenfaktor für eine zweite europäische Richterakademie mit einem Standort in Warschau spricht.

Gestatten Sie es mir deshalb, nun abschließend das Konzept einer solchen europäischen Rechtsakademie darzustellen.